Sonntag, 11. April 2010

ru24 History 11 - Mein Opa isst (1974)

Als Kind war ich oft bei der Oma (Jg. 1902).
Ich saß am Tisch in der Stube mit einem Buch für erste Leseversuche. Als Hintergrundgeräusch gab es das Ticken einer Wanduhr und das stete, gleichförmige Bullern des Ölofens. Es war so heiß, dass man hätte Affen großziehen können. Aus irgendwelchen Gründen hatten Oma und ich bereits gegessen. Sie rannte nebenan in der winzigen, schlauchförmigen Küche hin und her und lärmte mit ihren verbeulten Aluminium-Topfdeckeln. Opa (Jg. 1900) unterhielt im angrenzenden Gebäude einen kleinen, unfassbar veralteten Betrieb, in dem er herumknösterte, obwohl er schon Mitte 70 war. Dies war ein Ort, der angefüllt war mit Geistermaschinen und Maschinengeistern, ein rostiges, spinnenwebiges und staubiges Imperium der Schatten, antik in jedem seiner glanzlosen Details.
Um 13.00 Uhr hörte man unten im Gebäude eine Tür schwer ins Schloss fallen. Großmutter drehte dann mit der hektischen Betriebsamkeit noch einmal auf. Im nahen Treppenhaus hörte man beständige, schlurfende Schritte näherkommen, näher und näher - tapp, schlurf, tapp, schlurf - ein wenig wie in Gruselfilmen, die ich damals aber noch nicht kannte. Irgendwann ging knarrend die Tür auf und Großvater himself betrat den Raum.
Seine Aura war die eines Großinquisitors.
Die Raumtemperatur sank um 7 Grad.
»Mahlzeit!«, sagte er und meinte es auch so.
Es roch ganz intensiv nach Tuppix-Handwaschpaste aus der grünen Tube mit dem roten Schraubverschluss. Er hängte seine Schiebermütze an den Haken, seinen grauen, hundertfach geflickten Arbeitskittel befestigte er darunter. Jetzt konnte ich sein »Gott-mit-uns«-Koppelschloss sehen, das man ihm Anno 45 beim Volkssturm zur Wehrmachts-Uniform spendiert hatte. Er trug dieses Ding seit 30 Jahren als Gürtel, allerdings keinesfalls aus politischer Überzeugung, sondern »weil es noch gut war«.
Wortlos setzte sich Opa hinter den Tisch, legte die Hände flach auf die Tischplatte und wartete. Oma hastete heran und brachte einen Teller Kartoffeln mit Gemüse und eine Gabel. Der Großvater betete lautlos und griff zur uralten Silbergabel. Das Besteckteil war so alt wie die Großeltern selbst. Es war völlig abgegessen, sodass die Zinken ungleich lang waren – wie die Finger einer Hand.
Das ihm gegenüber sitzende, siebenjährige Kind, das beizeiten gelernt hatte, dass man »nicht mit seinem Essen spielt«, beobachtete fasziniert das nun nachfolgende Schauspiel: Er nahm die Gabel zur Hand und begann, die Kartoffeln zu zerstampfen. Er machte dies mit absolut gleichförmigen, langsamen Bewegungen. Er drehte den Teller um 180°, zerstampfte nun das Gemüse. Dann begann er, den Teller um jeweils 30° zu drehen und hob stampfenderweise das Gemüse unter die Kartoffeln. Binnen fünf Minuten zerquetschte, zermalmte er dieses sein Essen zu einer absolut gleichförmigen, pastösen Masse. Nun ebnete er die Pampe ein, verteilte sie gleichmäßig auf dem Teller. Er drehte die Gabel herum, sodass die Zinken nach unten wiesen. Nun zog er mit dem Besteckteil horizontale, parallele Linien in sein Essen, fein ordentlich von oben nach unten, bis alles vollständig liniert war. Dann drehte er den Teller um 90° - aus der Lineatur wurden nun Karos gemacht.
Sein Essen war nun noch etwa geschätzte zwei Grad wärmer als Zimmer-Temperatur.
Zuletzt drehte er die Gabel wieder in der Hand und nahm damit eine Fläche von 4 x 9 Karos auf, führte sie zu Mund. Er kaute jeden seiner 36-Karo-Bissen endlos, gelassen und stupide zugleich. Zuletzt schabte er mit schrecklichem Gequietsche die letzten Reste der Mahlzeit auf dem Steingut-Teller zusammen, aß sie und legte die Gabel hin.
Oma materialisierte am Tisch, den Teller abzuräumen.
»War lecker. Wat war dat?«, fragte Opa.

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