Freitag, 17. Juni 2011

ru24 Special: Camping*

*) ein aufpeitschender Erlebnisbericht aus dem Jahre 2004

"Zelten?", fragte eine Arbeitskollegin, "das macht man doch nur mit 14!"
Quatsch. Das ist nach den ganzen gestylten, All-Inclusive-Pauschalurlauben in DomRep oder MeckPomm, die aus Kostengründen dann doch nicht stattgefunden haben, genau das Richtige.
Camping bei Petten, Nordholland (Link).
Jetzt mußte man nur noch das Equipment bei Freunden zusammenschnorren.
Tipp: Wenn die einem sagen: "Die Luftmatratze müßte eigentlich in Ordnung sein", auf jeden Fall dankend ablehnen.
Nicht so ich.
Was für ein Spaß!

KINDER.
Ein Spaß ist es, wenn man sich an Freunde mit Kindern hängt. Da wird schon die Hinfahrt mit dem Auto zum Abenteuer, wenn die beiden Jungs bei der Rast mit der Kinderversion des Klappspatens den mittlerweile klo-losen und verwahrlosten Grenzübergang BRD/NL umbuddeln, derweil die Erwachsenen zwischen Flohknöterich, Spitzwegerich und Wiesenschaumkraut urinieren, ein Omen, wie sich zeigen sollte. "Können wir jetzt fahren?" – "Neiiin!" Die geben nicht eher Ruhe, bis sie vergammelte Drogen gefunden haben.
Jede Familie, die campt, hat mindestens drei Kinder. Gegen Abend kehrt dann auch langsam Ruhe ein, die Zeit zwischen Grillen und der Kinderzubettgehzeit wird nur hie und da durch schrilles Schreien aus der Ferne unterbrochen. Das wird emittiert, wenn z.B. in Reihe M der kleine Jantje (5) während des Kartenspiels im Kreise der Familie beim Mau-Mau mischen mit dem Kopf zwischen die Karten gekommen ist.
Abends Punkt 22.30 Uhr werden die übermüdeten Recken mit viel Überredungskunst in die Kinderschlafsäcke bugsiert. Kurz drauf dröhnt Bibi & Benjamin in der Lautstärke eines startenden Airbus aus 1.200 Walkmen – alle Knöpfe auf 10 – voll auf die Ohren: Die schöne Tradition der Gutenachtgeschichte mit Auto-Reverse, bis die Batterien ihren Geist aufgeben.
Die Kleinen haben mit der Masche sogar ein apokalyptisches Gewitter verpennt. Ich nicht.
Überraschung für den kinderlosen Singlemann: Kinder sind irgendwie ganz anders als die Miniatur-Erwachsenen, als die ich mir sie immer vorgestellt habe ...

WETTER.
03.10 Uhr Regen, das Zelt hält, die geliehene Luftmatratze ist nur noch bei 33%. 08.15 Uhr Wind, das Zelt hält, 10.20 Uhr Sonne, Frühstück im Freien, beim zweiten Brötchen (Salami ist wasserabweisend, ich Fuchs!) wieder Regen – und ich habe kein Drei-Wetter-Taft dabei. Witterung ohnehin allenthalben. Vor dem Frühstück, während des Frühstücks, nach dem Frühstück. Das lehrt Demut. Jetzt hockt man im Zelt und überlegt sich, was draußen wohl aus den zurückgelassenen Sachen wird: Den Lederschläppkes, den Brötchen, der Tasse Kaffee.
Neuer Tag, neues Glück. Sturm ab 6.00 Uhr, die Zeltwand drückt einem ins Gesicht, die strukturelle Integrität des Zelts liegt noch bei 12%. Gott, ich hab' zuviel Star Trek gesehen. Als ich vom Duschen wiederkomme, ist die Integrität meines Zelts im Arsch. Plunder, aus dem verbogene Stangen ragen, die lustig im Wind flattern (Windstärke 7 beaufort). Haha! Was für ein Spaß. Aber dafür hat man ja Freunde: Die halten einen davon ab, den Sprit-Ersatzkanister drüber auszugießen und den ganzen Klumpatsch so irgendwie fast im Affekt anzustecken. Plötzlich bin ich als Taifunbetroffener auf die Hilfe von Pater Rodriguez, der Mutter Theresa von Asien, angewiesen (Blogbeitrag).
Neidisch hocke ich im VW LT eines Nachgereisten und genieße den Luxus der Schönen und Reichen in einer beruhigenden Decefix-Atmosphäre aus Kieferholzimitat im Inneren. Vor allem kann man trocken und windstill sitzen.

CAMPER.
Vor x-tausend Jahren wurde im alten Ägypten der Stuhl erfunden. Dann kam später in Europa sogar der Heilige Stuhl dazu. Was Menschen von heute wohl dazu bewegt, wieder am Boden herumzukriechen? Wahrscheinlich das Zeugs aus der Marlboro-Werbung: "A warm camp fire, a hot pot of coffie and a good smoke" – klar, das gibt's alles – teilweise exklusiv – hier in Holland.
Allerdings leben hier auf dem Campingplatz 90% der Camper luxuriöser und komfortabler als 90% der Weltbevölkerung in ihren regulären Wellblech- und Pappe-Behausungen. Denn der Campingplatz sieht nur auf den ersten Blick aus wie ein Slum. Der deutsche Profi-Camper an sich nämlich beherrscht die Lage. Die professionalisierten Heeresverbände benutzen mittlerweile Ausrüstungsgegenstände aus Mylar, Kevlar, teflonbeschichteten Arachnidfasern und Gore-Tex mit Lotosblüteneffekt. Gelkissen. Gasgrill (mit piezoelektrischem Zünder), Grill-Mikrowellen-Kombi, elektrische Kaffeemühle, Satellitenantenne und Mückenverdampfer sind bereits unterste Standards.
Nur der Gelegenheits-Camper kann sich mit seinem von Freunden zusammengeschnorrten Equipment vorstellen, wie es wäre, auf einem fremden Planeten notgelandet zu sein.
Oder zumindest in einem Flüchtlingslager zu leben.
Doch zwischen zwei Wolken räkelt man sich wohlig in der Sonne. Die Frage ist: Wer macht den nächsten Kaffee? Auf diese existentielle Frage schrumpft nach wenigen Tagen das gesamte Universum des Gelegenheits-Campers zusammen. Lässig mit der Tasse in der Hand grüßt man die von gottweißwo heimkehrenden Nachbarinnen.

NACHBARN.
Natürlich gibt es auch beim Camping Nachbarn. Der Nachbar an sich, so zu Hause, ist normalerweise die Geißel der Menschheit (Blogbeitrag). Hier, unter freiem Himmel, am Busen der Natur ist der Nachbar hingegen ein Kamerad, ein Wettermitleidender, ein Slum-Mitbewohner, der Nächste aus der Bibel.
Man kann sich gegenseitig Tipps geben, wie man Zelte aufbaut, welche Dusche in welchem der Duschhäuser den sattesten Strahl hat, oder sich gegenseitig informieren, dass die Frittierfischbude mit dem Kibbeling wieder da ist.
Und: Man kann Nachbarn zu einem Wein einladen, ohne daß man gleich aufräumen, saugen und fensterputzen muß.
Unsere beiden wirklich netten Nachbarinnen und Wettermitleidenden aus Ingolstadt kamen auch mal auf einen Wein vorbei, wurden aber von unserem aus der Heimat nachgereisten Besuch (der mit dem VW LT) dermaßen brachial mit der Methode "guter Bulle/böser Bulle" verhört (er: "Ich unterhalte mich doch nur!"), daß sie den Rest der Zeit erst spät nachts auf den Campingplatz zurückschlichen und sich im dunklen Zelt zur Kommunikation nur Zettelchen mit einem phosphoreszierenden Stift schrieben, damit niemand sie hörte oder sah.
Schade.

HYGIENE.
Viele Männer sind der Überzeugung, daß 300m zum Klohäuschen eine Zumutung sind und zeigen auch ihrer nachwachsenden Chauvi-Brut, wie man prima neben das Zelt ins Gebüsch pinkelt. In zwei Wochen werden hier Harnsteinkristalle wie Dornen aus dem Gesträuch ringsum wachsen, Ruhr und Cholera ausbrechen.
Doch es gibt auch Lichtgestalten wie mich, die immer zur Toilette gehen. Für jede verstreichende Stunde, die nach der rituellen Reinigung der Klohäuschen durch brachiale Reinigungsfachkräfte ins
Land gezogen sind, legen die Herren ein weiteres Schamhaar auf den Rand des Pissoirs, wie eine säuberliche Strichliste. In diesem Augenblick mußte die letzte Reinigung hier bereits sieben Stunden her sein.
Die Duschen laufen genau 5 Minuten im Warmwassermodus, der Umwelt zuliebe, haben aber eine Zwischenstopp-Taste. Wenn man sich im Zwischenstopp-Modus zu lange einseift, springt die verbleibende Restzeit auf Null. Nur kann ich als Schaummonster nicht raus aus der Dusche, der Umwelt zuliebe. Da tappt man dann frierend 5 Minuten bis zum nächsten Reset der Uhr in Fußpilzgefilden herum und flucht, Pustefixbläschen ausstoßend.
Nach einigen Tagen ist man abgehärtet. Das Immunsystem läuft eh jenseits des roten Bereichs auf Vollast. Dinge, die im richtigen Leben sofort Krätze, Herpes oder Pilzinfektionen verursachen würden, werden fast schon nicht einmal mehr ignoriert. Man schmiert sein Brötchen mit einem Messer, das tagelang nur zwischen ungewaschenen Fingern unter einem Wasserhahn gereinigt wurde, an dem das Schild "Kein Trinkwasser" bereits weggefault ist. Der Pappteller ist ebenso weich wie das Brötchen und krustig von den Generationen der Mahlzeiten, die über ihn hinwegzogen wie lepröse Heuschreckenschwärme. Sand knirscht zwischen den Zähnen. Die Kinder nuckeln kauend wahlweise mit Ketchupschnute oder Nutellamündchen an Flaschen und rülpsen nach Jungenart dabei hinein. Haha! Ihr lustigen Kinder! Schwebstoffe reichern sich an. Doch man ist bereits jenseits des Ekels.
Schmeckt gar nicht übel. Irgendwie isotonisch.
Auch gibt es interessante Hygiene-Projekte: Ein Löffel, der in einem Topf mit Raviolis steckt, wird in der Sonne binnen Stunden zu einer Einheit verschweißt – so was kann doch keine Sau ahnen. Oder: Die Kleinen sammeln halbtote Krebse und Muscheln am Strand, die dann in einem Eimerchen an der Hecke neben dem Zelt dumpf vor sich hin wesen, wie ein maritimes Zombieheer.
Lockt wahrscheinlich Aasfresser und Insekten an.

TIERWELT.
Insekten ohnehin allenthalben. Wespen: Schleierhaft bleibt, was the fuck alle Wespen in meinem linken Ohr suchen, zumindest grofeln sie drin herum. Natürlich sagen die dann noch allen anderen schwarzgelben Tussis in ihrer Papier-
WG bescheid. Das mit meinem Ohr. Der Trick ist still halten. Cool bleiben. Leider kennen die Wespen den Trick nicht und stechen trotzdem. Die Invasion der fliegenden Ameisen startete Dienstag um 18.00 Uhr MEZ.
Libellen brausen herum wie aufgeregte Helikopter. Ameisen in der Margarine, Ohrenkneifer im Zelt, im Gebüsch irgendein stechendes Mistzeug, abends umschwirren Motten die Gaslampe und Mücken die unbedeckten Stellen der Körper – natürlich entzünden sich die Stiche. In den heidekrautbegrünten Dünen hingegen perfekt getarnt: Freilaufende, urwüchsigste Rinder, die den Beweis ihrer Existenz nur indirekt durch Fladen antreten, die an Jurassic Park gemahnen.
Und dann der Campingplatz als Ornithologen-Paradies: Völlig enthemmte Amseln laufen einem um die Beine, wie es nur völlig enthemmte Amseln können. Möwen stochern im Morgengrauen in Müllsäcken wie Ratten mit Stechahle: POK! - POK! Tauben rülpsen ihr geistloses Gru-hu -- gru-hu -- gru-hu, Elstern knattern im Gebüsch, Krähen 'singen' ihr Krah! – Krah!
Nach 2 Tagen kann man durch ein Wunder sogar bei dem ganzen Irrsinn schlafen.
Das einzige, was man hier gegen Vögel unternehmen kann, ist: jede Menge Kipfrikandeln essen.

KÖRPER & GEIST.
Kipfrikandel. Kip ist Hühnchen. Sieht aus wie eine schlecht selbst gebastelte Zigarre. Schmeckt wie grobe Currywurst. Enthält nur Fett, gemahlene Hühnerköpfe und Hühnereingeweide. Gar nicht übel. Dazu Pommes mit Pindasauce (Erdnußsauce) und eine Limo namens Rivella oder ein flesje Dubbel Frisss witte druiven & citroen, allesamt mit lustigen Zutaten.
Der Himmel ist in Holland.
Als Nachtisch ist im Supermarkt (SPAR – Haha!) ein Produkt mit Roombotter (Rahmbutter) auszuwählen, wie z.B. diese extrem zart schmelzenden Käsekuchenklontjes. Oder Flamingos, grell flamingofarbene Küchlein, die komplett aus E-Zutaten (E332, E373 etc.) gebacken werden. Nachmittags macht man Halt an einem Fischwagen. Frituur, so weit das Auge reicht. Hier ißt selbst Frau Antje nur noch Fisch am Stück, natürlich in der typisch enthemmten Auf-Ex-Fischreiher-Pose. Zwei Familienboxen Kibbeling für insgesamt 10 EUR mit der guten, gelben Mayo sind für die Körper der gesamten Reisegruppe jetzt wie ein Ölwechsel, hmm!
Der Himmel ist in Holland.
Dann vielleicht noch auf die ganze Glückseligkeit einen Koffie verkeerd – Milchkaffee (Parkeren verkeerd ist, wenn man so wie ich sieben Tage auf dem Kurzparkerparkplatz steht). Abends Ravioli und/oder Grillgut. Ab 18.00 Uhr liegt ein dichter Rauchschleier über dem Campingplatz. Papas benutzen die Luftmatratzenpumpe, um die Glut anzufachen, schmelzen dabei die Plastiktülle, die Kinder zündeln. Irgendwann ist fertig. 1.200 Camper verdrücken dann binnen 20 Minuten das Getier eines kompletten Bauernhofs im Erstschlag. Dazu ein Grolsch. Später Käseflips (Cheetos) oder abgefahrene Kartoffelchips mit Hühnchenaroma. Oder Käsewaffeln.
Der Himmel ist in Holland.
Der Körper hingegen ist mittlerweile eine Baustelle aus Blessuren, Abschürfungen, Schwellungen die teilweise entzündlich nässen von diversen Insektenstichen und -bissen, Rötungen von der sporadisch vorbeihuschenden Sonne. Ob das da an den Füßen jetzt wirklich Fußpilz wird, bleibt abzuwarten.
"Gib mir mal bitte was von dem Grolsch oder von dem Rotwein, ... jaja, ruhig in die Kaffetasse."

Fazit: Für all das läßt man doch jeden Pauschalurlaub glatt sausen!
Und völlig korrekt, liebe Kollegin: Zelten macht man nur mit 14.

Und so schließt sich elegant der Kreis.


Mehr "camping" gibts noch hier: Kügelchen, Urlaubserinnerung.