Sonntag, 29. Januar 2017

Von Datenschutzgespacke bis "Schere im Kopf" (1982-2017)

photo credit: David Blackwell. The David Party via photopin (license)
1982

Schon bei meinen ersten Ferienjobs ab 1982 fand ich das Verhalten der fest angestellten Kollegen vor Ort hochgradig spack: Wenn sie am Monatsende ihre Lohntüte an den Rändern aufgerissen hatten, dann spähten sie hinein (Abbildung), als stünden dort Raketen-Abschusscodes, die nicht in feindliche Hände fallen dürfen und nicht schlicht ihr zu niedriges Monatsgehalt. Was sollte das? Indem jeder sein Gehalt wie ein scheiß Staatsgeheimnis behandelte, konnte der grausame Produktionsmittelinhaber jedem seiner Schergen zahlen was er wollte und für die Geheimhaltung sorgten die kleinen Spacken auch noch selbst! Sie selbst hielten ein per se ungerechtes System dadurch aufrecht! Was war nur aus der vielbesungenen Solidarität unter Arbeitern geworden? Es ist übrigens 35 Jahre später unter Angestellten der gleiche, völlig unwürdige Quatsch.
Datenschutzgespacke.

1987

Bei der letzten in der alten Bundesrepublik durchgeführten Volkszählung von 1987 (Wiki) kam es -- wie sollte es anders sein -- zu wilden Boykottaufrufen und großem Widerstand gegen den "Big Brother" Bundesrepublik. In Wuppertal gibt es noch heute "VOLKSZÄHLUNGSBOYKOTT"-Graffitis in einigen der etwas runtergerockten und > 30 Jahre nicht gestrichenen Nebenstraßen des Elberfelder Ölbergs. Natürlich möchte der Bundesbürger 24/7 von seiner Regierung supertoll regiert werden, aber leider darf der Staat keinesfalls wissen, was und wen genau er da eigentlich regiert, damit alle weiterhin über die "Bürgerferne" der Politik meckern können.
Absolutes Datenschutzgespacke.

ca. 2000

Seit ich google, lasse ich mir auch offiziell von Google über die Schulter schauen. Die können mir nur immer besser helfen, wenn ich ihnen dabei helfe, dass sie immer besser werden. "Ja, aber...", schnappen jetzt reflexartig Himpelchen und Pimpelchen, die immer alles kostenlos haben wollen ohne jemals etwas dafür zu geben. So funktioniert die Welt aber nicht. Ich finde zum Beispiel Internetwerbung ziemlich dämlich, die mal so gar nicht zu mir passt, also für Singlebörsen und Gartenzubehör, Karten für Sportereignisse und Alufelgen.
Wenn ich in "meinem" Google nach "Marines" suche, dann möchte ich sofort die Webseite des famosen Lokals finden (Wiesenstraße 2, 42105 Wuppertal) und nicht Informationen über das United States Marine Corps und dessen Angehörige erhalten. "Mein" Google weiß das. Natürlich mache ich mich dadurch durchsichtig, aber das ist der Preis, den ich bewusst dafür bezahle.

ca. 2005

Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich bei einem Bekannten einen Laptop mit abgeklebter Kamera. "Paranoid ist, was du draus machst", dachte ich damals (naiv wie ich war).

2010

Seit der Trilogie um Lisbeth Salander (ab 2010 in deutschen Kinos) weiß ich, dass in Schweden dieses Datenschutz-Ding eher mal nicht so richtig existiert: Die Schweden setzen auf Transparenz. Wer also wissen will, was sein Nachbar verdient oder wen es interessiert, wem der Volvo mit dem amtl. Kennzeichen KRM-552 gehört, schaut einfach im Internet nach (Artikel). Schweden? Die sind doch cool drauf, da am Polarkreis! Hey! Datenschutz, das ist doch nur was für Lappen!

2012

"RFID-Etiketten in der Kleidung bringen Datenschützer auf den Plan" (Artikel), offenbar gab es 2012 gerade nichts Wichtigeres für Datenschützer, als RFID-Tags aus Jacken von Passanten auszulesen. "Bewegungsprofile könnten erstellt werden", *kicher*, is klar. Da die Dinger aus bis zu 10 m Entfernung ausgelesen werden können, braucht es für eine Stadt wie Wuppertal also lediglich 17 Millionen Messstellen, damit man einen einzelnen Spacko in seiner Designer-Joppe verfolgen kann, Muahahaha!!!, ihr Lappen. Absolutes Datenschutzgespacke.

2013

Die Künsterlin Heather Dewey-Hagborg sammelt Kaugummis und Zigarrettenkippen von der Straße und Haare in öffentlichern Verkehrsmitteln und analysiert die Funde genetisch, läßt in 3D-Druckern die Gesichter der Erbgut-Träger entstehen (Artikel), krass: Webseite der Künstlerin (hier).
"Eine Zeit der "genetischen Überwachung" bahne sich an, sagt die Informations-Künstlerin, die sich in anderen Projekten bereits mit Gesichts- und Spracherkennung befasst hat. " (a.a.O.)
Irgendwann sind wir alle längst in GATTACA (Link) angekommen, ohne es gemerkt zu haben.

"Ed Snowden" und Wikileaks: auch DAS war in 2013, aber da haben alle nur noch total abgestumpft drauf reagiert, ganz so, als könne man da eh nichts dran ändern, wie auch am Artensterben und dem Klimawandel.
Wenn so etwas in den 80ern herausgekommen wäre, da hätten auf den Straßen ein paar Barrikaden gebrannt.

2014

Identitätsklau per Kamera: Fingerabdrücke von Politikern zu kopieren, ist kein Problem. Ein Foto der Hand genügt, wie zwei Sicherheitsforscher demonstrierten (Artikel). Somit wird die Merkel-Raute auf Fotos zum Sicherheitsfeature, das Ackermann-Victory (hier) oder ein schlichtes "thumbs up" auf Fotos (hier) zum Datenleck -- also ist Vorsicht geboten in Zukunft. Zumindest könnten Diebe das geklaute iPhone entsperren und sämtliche weitere Fingerabdruck-Sicherheitssperren überwinden, z.B. am Laptop, notfalls mit einem Kunstdaumen aus dem 3D-Drucker. Unwahrscheinlich aber technisch möglich.
Schon ein bissi Datenschutzgespacke.

2016

Aktuell klebt selbst "Mr. Facebook" Mark Zuckerberg die Front-Kamera seines Notebooks ab -- wie ein Boss (Artikel), Ed Snowden sei Dank. Die Piraten-Augenbinde für Notebooks gibt es mittlerweile als Standardzubehör zu kaufen, aber vermutlich landet man als Käufer in einer Watchlist von Menschen, die glauben, noch etwas zu verbergen zu haben.
Letztens schaute ich in der Wohnung von meinem Schreibtisch aus gedankenverloren auf das Dach gegenüber, wo sich silbern im Wind Lamellenschornsteine drehten. Ich googelte die Teile (Schornstein, chrom, dreht), fand damit heraus wie die Dinger überhaupt heißen, dass sie durch ihre Bauweise den "Zug im Rohr" erhöhen -- aha! ach so! -- und gut war. Dachte ich. Seitdem verfolgen mich die Teile von Webseite zu Webseite. Nein, ich möchte den Zug im Rohr nicht erhöhen!
Aber genau aus diesem Grund habe ich keinen Dildo als Weihnachtswichtelgeschenk für die Firmenweihnachtsfeier bestellt (was sicherlich sofort eine Bombenstimmung ausgelöst hätte). Meine Zurückhaltung rührt daher, auf dass ich nicht monatelang beim Surfen von vage rosafarbenen Kunst-Phalli belagert werden möchte.
Hier fängt es an, das mit der "Schere im Kopf".

2017

Letztens habe ich "schmutzige Bombe" gegooglet, nur um mal zu sehen, was genau dahintersteckt. Mist, ich war zu impulsiv: Sicherlich bin ich jetzt für den Rest meines Lebens auf mehreren Geheimdienst-Watchlists (UK, USA, Israel), der BND wird es verpennt haben.
Ich fände es auch interessant, mal nachzusehen, wie man eigentlich selbst Sprengstoff herstellt, nicht, weil ich welchen produzieren möchte, ganz bestimmt nicht, lediglich weil mich Dinge interessieren. Und hey: wie kommt man eigentlich an Rizin? Wo kann man sich den TOR-Browser (für das Darknet) herunterladen und gibt es im Darknet überhaupt eine Suchmaschine, z.B. GRRRGLE?
Ich schaue nicht nach, einfach, um mich nicht verdächtig zu machen.
Wie vielen, "die nichts zu verbergen haben" (O-Ton) geht es genauso?
Hurra, die Selbstzensur ist auch schon da!
Das sind wir: Freie Bürger mit Schere im Kopf.


LINKS
Absolut sehenswerter Film: "Snowden" (2016), Trailer
Das Zeitalter der Videoüberwachung beginnt erst. Link
Artikel über Posts, die Facebooknutzer nie veröffentlichen, die Facebook aber trotzdem liest. Link
Psychologie: Ständige Überwachung führt zu Selbstzensur. Link