Mittwoch, 16. Juni 2010

Lifestyle 36 - Duschen in Berlin

"Menschen, die man generell als genussfähig einstufen kann, verrichten ihre tägliche Körperreinigung nicht gerne wie in einem Gefangenenlager."
Diesen aufpeitschenden ersten Satz möchte ich einfach so mal so stehen lassen.

Es begab sich, dass in den 90ern ein Freund von Wuppertal nach Berlin zog.
Ich half ihm beim Umzug.
Als alles Mobiliar im 4. (gefühlten 6.) Stock endlich parat stand, und ich aus meinem Matratzenkoma erwacht war, "gönnte" ich mir eine Dusche.
Naja, "gönnte" war in dem Fall etwas arg opulent angelegt.
Es gab keine Duschkabine, keinen Duschvorhang.
In einer Wohnung, die gerade bezogen wird, ist das sicherlich verständlich...
Würdelos kauerte ich mich in die Wanne. Was irgendwie ausgesehen haben muss, als verneigte ich mich gen Mekka und würde gleichzeitig versuchen, mich vor Granatsplittern zu schützen. Ich fuhr mit dem Brausekopf mal hier hin, mal dort hin. Da, wo das warme Wasser gerade nicht war, bemächtigte sich meiner eine allumfassende Gänsehaut. In diversen entwürdigenden Posen schäumte ich mich ein, spülte mich ab, fluchte, fror.
"Weichei" werden jetzt viele zischen, die bereits mindestens 25 Jahre in einem russischen Gulag gedarbt haben.
Währenddessen verwandelte sich das Bad in ein Feuchtbiotop, in dem Schilf und Amphibien gediehen wären, wenn man sie nur gelassen hätte. Mein rechter Fuß patschte beim Aussteigen aus der Wanne bereits in Froschlaich. Der Badezimmer-Mülleimer dümpelte auf den Fluten, trieb leise in Richtung Tür, wo die Wassermassen sich unter dem Türspalt brausend in den Flur ergossen.
Wohl dem, der eine Haftpflichtversicherung sein Eigen nennt...
Ich war froh, dem zu fliehen!
Wieder zu Hause duschte ich ausgiebig in meiner neuzeitlichen Duschkabine und genoss das futuristische Leben der Schönen und Reichen des auslaufenden 20. Jahrhunderts!
Ein Jahr später besuchte ich meinen Freund.
Die Wohnung war... wohnlich!
Doch ach!
Von einer Duschkabine, von einem Duschvorhang war nirgends eine Spur! Ich ärgerte mich, gleich vier Tage Berlin gebucht zu haben. Und seitdem mehren sich die Hinweise, dass Berliner so etwas wie Duschkabinen und Duschvorhänge überhaupt gar nicht kennen! Weil sie lieber unwürdig kauern und frieren!
Etliche Hauptstadtbesucher zogen mich seither weinend ins Vertrauen, klagten über ähnliche Zustände in Berlin. Vorsintflutliche Zustände, die ganz automatisch zu nachsintflutlichen Badezimmern führen!!
"Et is doch en Elend inne Welt!", sacht de Mutter immer.
In den Slums von Bombay vielleicht, aber in der Hauptstadt Deutschlands?
Vielleicht sollten wir alle wieder wie nach dem Krieg "Notopfer Berlin"-Briefmarken auf unsere E-Mails kleben, bis alle dort in der Nachkriegsmoderne des dritten Jahrtausends angekommen sind.

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P.S.: Meine Lieblingsberlinerin hat als ehemalige Ost-Kanadierin natürlich Duschvorhang. Was bin ich doch für ein Glückspilz! :)