Dienstag, 29. Juli 2014

Jungsesell(inn)enabschiede

photo credit: Johann Ebend via photopin cc

Es ist Sommer. In Mittel- und Großstädten sind sie jetzt wieder unterwegs: Große homogen gekleidete Gruppen von twenty- oder thirty-somethings mit einem einzelnen, schrill gewandeten Paria in ihrer Mitte.
Es ist wieder Jungsesell(inn)enabschieds-Zeit.


Jungsesellenabschied/Herrengruppe: Während alle Herren gekleidet sind wie die Blues Brothers (alternativ bedrucktes T-Shirt aus dem T-Shirt-Druck-Shop), trägt der Paria bei 30°C im Schatten ein Löwenkostüm. Alternativ schmückt sein verschwitztes Haupt eine Eutermütze und als Oberbekleidung trägt er einen beklebten Karton, untenrum eine grobe Fishnet-Strumpfhose an Strapsen. Gerne genommen wird auch eine schweißtreibende Afro-Perücke (optional unter der Eutermütze). Das Allerwichtigste dabei ist, dass der Paria in aller Öffentlichkeit zum Vollhorst gemacht wird.

Jungsesellinnenabschied/Damengruppe: Alle Damen tragen taillierte, mädchenrosafarbene bedruckte T-Shirts aus dem T-Shirt-Druck-Shop. Alternativ sehen sie aus wie eine Raubtiergruppe (siehe oben). Die Eine in ihrer Mitte ist komplett in Magenta gekleidet und trägt ein Diadem/ein Krönchen/einen Kopfputz mit zwei pinkfarbenen Sternen an Metallfedern. Die weibliche Paria wird von ihrer Entourage im Gegensatz zu ihrem männlichen Pendant nur zum Horst gemacht.

Das "Spiel" geht so: Der Vollhorst mit seinem Gefolge und die Horstin mit ihrer Entourage rennen in der Anonymität einer Mittel- oder Großstadt getrennt voneinander durch Einkaufsstraßen & Biergärten. Dort müssen sie (ggf. mit einem Bauchladen) an genervte Passanten Kondome verhökern (Hoho!), was vor 40 Jahren mal eine große Sache gewesen sein muß. Das Allerwichtigste scheint dabei aber zu sein, dass alle stundenlang in der Gegend herumstehen, zwischendurch erratisch herumirren aber niemand dabei jemals den Eindruck macht, dass dieses schmerzhaft unoriginelle Prozedere auch nur im Entferntesten irgendjemandem Spaß macht. Auch nicht den Passanten.
Autsch!

Man fragt sich so einiges:
F: Was the fuck haben Vollhorst und Horstin verbrochen? A: Sie werden einander heiraten.
F: Wer the fuck ist denn auf die schmerzhaft unoriginelle Idee gekommen, dem zukünftigen Ehepaar solches anzutun? A: Ihre sogenannten "Freunde".
F: Ist "rituelle Erniedrigung des Brautpaares" das Einzige, was den sogenannten "Freunden" zum Thema "Heiraten" eingefallen ist? A: Leider nein! Auf der Hochzeit selbst gibts noch ein paar weitere unterirdische Knaller aus der Mottenkiste, siehe www.hochzeitsspiele.org.
F: Warum bleiben die Spacken nicht in ihren eigenen elenden Käffern und Weilern, um sich dort lächerlich zu machen? A: Gegebenenfalls sind sie dort schon Lachnummern.
F: Ist das nicht alles ein bisschen traurig? A: Im Prinzip ja.


Sonntag, 27. Juli 2014

DAF: "Der Räuber und der Prinz" (1981)

"Deutsch Amerikanische Freundschaft“ von Tilman Brembs - http://goo.gl/yCkaGg. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons
1981 hat die Band DAF "Deutsch Amerikanische Freundschaft" das LP-Album "Alles ist gut" herausgebracht, es enthielt die Ausnahme-Hits "Der Mussolini" (Seite A, Track 2) und "Der Räuber und der Prinz" (Seite A, Track 5). Das Cover zeigte verschwitzt und mit nacktem Oberkörper die Herren Gabi Delgado-López (Vorderseite) und Robert Görl (Rückseite). "DAF gelten als Pioniere und Inspiration für die Genres Electropunk, Electronic Body Music und Techno." (Wikipedia)
Für das Album erhielten sie den Deutschen Schallplattenpreis.

1981 wusste von uns 13- bis 14-jährigen Blagen niemand so genau, was er mit den Textzeilen "Tanz den Mussolini, tanz den Adolf Hitler" anfangen sollte (war das nicht 'verboten'?). Und war "Der Räuber und der Prinz" nicht irgendwie 'schwul' (will meinen ein Lied über das 'Tabu Homosexualität')?
Gottogott! Aber die Mucke war natürlich grandios!

1981 auf der Realschule Radevormwald fand der Werken-, aber auch der Handarbeits-Unterricht im Untergeschoss statt. Die Jungen hatten Werken, die Mädchen Handarbeit und es handelte sich hierbei um homogene Gruppen - wie es sich gehörte. Die Räumlichkeiten für Werken und Handarbeit lagen im Kellergeschoss am Ende eines langen, schlauchförmigen Flures mit fast quadratischem Querschnitt und waren immer abgeschlossen, die Schüler mussten vor Unterrichtsbeginn im Flur warten. Wenn jemand das Licht ausschaltete, dann fiel nur noch ein indirekter Schein aus einem Treppenhaus ein und der Flur lag in einem stimulierenden Halbdunkel. Manchmal spielten die Jungs so etwas wie Squash mit Tennisbällen - weil es sich anbot und weil es so toll knallte. Die Akustik in dem Schlauch war auf jeden Fall 1A, alles hallte und machte dumpfe Echos.

1981 hatte mein Mitschüler Stefan "Kanne" Kanitz einen Mono-Kassettenrecorder, bei dem man mit einem Drehregler die Bandgeschwindigkeit stufenlos verändern konnte. Wow!

1981 kam all das zusammen: Während wir in diesem Akustik-Schlauch auf unsere Werken-Lehrerin warteten, packte Kanne seinen Kassettenrecorder aus und spielte gehörig laut DAFs "Der Räuber und der Prinz" (youtube). Das ohnehin schon leiernde Lied mit den blechernen Doings!" und "Dongs!" wurde mal schneller, mal langsamer, Echos kollerten durch den Gang und kamen wie Brandung zurückgerollt.
Eigenartigerweise ist das mit Abstand die intensivste Erinnerung, die ich an meine gesamte Schulzeit habe.


Mehr Realschule Radevormwald: Blogbeiträge.


Donnerstag, 24. Juli 2014

All tomorrow's parties (1992)

photo credit: lietz.photography via photopin cc

Zwischen Januar 1992 und März 1996 habe ich als studentische Hilfskraft bei der Barmag AG gearbeitet. Einer meiner ersten Jobs dort fand in der Normabteilung statt. Es war eine kleine Abteilung mit einer Bürokraft (Frau V.), drei identischen, seitengescheitelten Norm-Klonen und einem in Ehren ergrauten Chef, Herrn Faust. Hier war noch nie etwas weggekommen! Die Norm-Klone saßen mit ausdruckslosen Gesichtern an ihren (damals computerlosen) Schreibtischen, hie und da standen sie auf, um sich auf der Toilette die Scheitel mit dem Lineal nachzuziehen. Morgens sagten sie "Guten morgen!", Mittags "Mahlzeit" und Abends "Schönen Feierabend!" (Freitags: "Schönes Wochenende").
Was ich in dieser Abteilung gemacht habe, habe ich tatsächlich vollständig vergessen, es war irgendwas unsagbar Langweiliges und ich war doch noch so jung!
Im Gedächtnis geblieben ist mir der Chef, Herr Faust. Er war der einzige in der Abteilung, der immer richtig gut drauf war. Seine Rente stand kurz bevor (ein bis drei Jahre in der Zukunft), der dienstälteste Dipl.-Ing.-Norm-Klon würde ihn wohl eines Tages als Chef der Normabteilung beerben. Aber bis dahin machte Herr F. hart Party! Er hatte einen Tischkalender, in dem alle Geburtstage, Jubiläen, Verabschiedungen eingetragen waren, die ein so großes Unternehmen von 6.000 Mitarbeitern beging. Die Abteilung, in der solches stattfand war ihn dabei piepegal, auch, ob er der feiernden Person jemals begegnet war, Hauptsache es gab Mettbütterchen und Sekt!
Morgens um 9.00 Uhr schlug er also seinen Kalender auf, der Finger wanderte zu Party des Tages No. 1, dann sprang er sehr dynamisch auf und verabschiedete sich mit den Worten: "Ich bin mal kurz weg!" Die Norm-Klone warfen ihm gallige Blicke hinterher und rollten wild mit den Augen. Nach ein bis zwei Stunden tauchte der Chef wieder auf - gut geplauzt und heftig angeschickert. Oft schlief er bis zur Mittagspause einfach am Schreibtisch seinen Rausch aus, dann ging er mit einem markigen - "Mahlzeit!" - in die Kantine Essen fassen. Nachmittags gab es dann den zweiten Mett-und-Sekt-Termin. Gegen 15.00 Uhr war er zurück: Schwankender Gang, unsteter Blick, krasses Kichern! Noch ein kleines Nickerchen, und schon war der Arbeitstag herum ...

Ich war sehr beeindruckt!
Ich beugte mein Knie!
So einen chefmäßigen Job wollte ich später auch mal machen!


Mehr "Barmag AG": Blogbeiträge


Freitag, 18. Juli 2014

Üdvözöljük a Balaton (1993)

photo credit: cannedmoods.com via photopin cc

1993 sind wir zu viert (zwei Pärchen) in einem Fiat Uno von Wuppertal aus nach Ungarn an den Plattensee gefahren. Wie wir das Gepäck ins Auto bekommen haben, ist mir bis heute ein Rätsel.

(1) Sprache. Die Ungarische Sprache "gehört zum finno-ugrischen Zweig der uralischen Sprachfamilie". Damit ist im Grunde schon alles gesagt. Entweder man spricht ungarisch (alle Ungarn), oder man spricht es nicht (alle Anderen). Hier der völlig unmerkbare Grundwortschatz: Link. Alternativ kann man in Ungarn das absolut universelle Wort "höz" verwenden. Es ist kurz, leicht zu merken, bedeutet eigentlich nichts, geht aber quasi immer: "Höz?" - "Höz!"

(2) Geographie. Der Plattensee wird von den dort Ansässigen "Balaton" genannt und ist 79 km lang. Er ist der größte Binnensee Mitteleuropas und einmal komplett von Straße umgeben. Das ist sehr wichtig, denn auf welchem anderen großen Rundkurs hätten die ständigen Hochgeschwindigkeits-Verfolgungsjagden zwischen Fiat-500 Polizeifahrzeugen und den vorneweg rasenden rostigen Škodas sonst auch stattfinden sollen? Meistens schaffen sie 3 Runden in knapp über sechs Stunden, bis einem von beiden unterwegs der Sprit ausgeht.
Lohnenswert ist ein Besuch der im Nordosten des Sees gelegenen Stadt Székesfehérvár wegen ihres barocken Stadtkerns. Und, weil es so ein tolles Wort ist.

(3) Natur. Der Plattensee ist an vielen Stellen noch ein Stück unberührter Natur. Er ist schilfumstanden und die Heimat zahlreicher Tier- und Pflanzenarten. Wir standen schon bis zu den Waden im Wasser, als wir die Wasserschlange auf uns zu schlängeln sahen. Um das Biotop dieses possierlichen Reptils (und aller seiner vielleicht auch größeren Freunde) nachhaltig zu schützen, zogen wir uns blitzartig, fast schon hektisch aus selbigem zurück und machten keinen zweiten Versuch, baden zu gehen.

(4) Wetter. Das Wetter innerhalb der Saison ist fantastisch! Sobald allerdings die Saison beendet ist, regnet es Bindfäden und die Temperatur sinkt auf 11°C (Tag) und 9°C (Nacht). Da bei uns der dritte Tag des Urlaubs bereits in die Nachsaison fiel, war es schlagartig vorbei mit dem 30°C-und-blauer-Himmel-Bombenwetter. Allerorten wurden die den Touristen willkommen heißenden "ÜDVÖZÖLJÜK"-Schilder abmontiert, etliche Läden und viele "Paprika Csárdas" geschlossen und verrammelt.
Wir verbrachten viel Zeit in der Wohnung mit lesen und Scrabble spielen. Einer meiner Höhepunkte des Urlaubs war es, auf einen 3-fachen Wortwert das Wort B3E1Q10U1E1M3 gelegt zu haben.

(5) Unterkunft. Anfangs waren wir begeistert von der Ferienwohnung. Bald aber begriffen wir, dass unsere Vermieter, um uns diesen Luxus möglich zu machen, mit einer vierköpfigen Familie plus Riesenschnauzer "Rocco" nun in der schmalen Garage hausten. Später entdeckten wir, dass jeder Bilderrahmen in der Wohnung ein Dummy-Bild enthielt. Darunter kamen die Wohnungsinhaber als Brautpaar und Familienbilder zum Vorschein. Immer wenn sich einer der ihren umständlich unter dem Garagentor hervorschlängelte, dann packte uns das schlechte Gewissen. Wir waren deutsche Besatzer!

(6) Essen und Trinken. Jedes Lokal am Plattensee ist eine "Paprika Csárda". Heißt das Lokal abweichend davon, dann ist es lediglich eine getarnte "Paprika Csárda". Freundlich heißt man Hungrige dort mit "Üdvözöljük!" willkommen. Zu essen gibt es Gulasch, Spießchen, Schnitzel, dazu als ausschließliche Beilage Pommes Frites. Auch wenn sie es auf der deutschen Karte "Bratkartoffeln" nennen, sind es trotzdem immer Pommes Frites. Es gibt im Umkreis von 50 km um den Plattensee keine andere Beilage als Pommes Frites, so will es die ungarische Verfassung. Als Getränk trinkt man hier ein hervorragendes Bier namens "Soproni", welches in der ungarischen Stadt Sopron gebraut wird. Der Soproni-Slogan lautet "Hozzánk tartozik!", darauf schreien alle gleichzeitig laut "Höz!" und erheben ihr Glas.

(6b) Gastronomie abseits des Tourismus. Bei unserem Abstecher nach Székesfehérvár kehrten wir in ein Lokal ein. Wir bestellten mit Händen und Füßen eine Grill-Platte für vier Personen und bekamen ein absurdes Gebirge aus Grillfleisch und natürlich Pommes, über das man sitzend nicht hinwegsehen konnte. Acht Eisenbieger hätten das nicht verdrücken können. Dazu floss das Soproni in Strömen. Die Rechnung war nicht der Rede wert.

(7) Teufelsgeiger. Jede "Paprika Csárda", die etwas auf sich hält, hat einen eigenen Teufelsgeiger. Es handelt sich hier um einen traditionell gewandeten Herrn, ein Meister der Violine. Anfangs, vor allem von den Damen geschätzt, spielt er traditionelle ungarische Weisen, weist aber schon hier während des Spiels mit phantastisch gelenkigen Augenbrauen darauf hin, dass er für seine Virtuosität gerne den einen oder anderen Geldschein (Währung: Forint) zugesteckt bekommen möchte. Ignorieren die Gäste das leichtsinnigerweise, beginnt der Maestro, den Spendenunwilligen exklusiv ins Ohr zu spielen. Dabei simuliert er in rasender Abfolge "quietschende Zugbremsen", "Rückkopplung eines Mikrofons", "Fingernägel auf Schiefertafel" und "Styopor an Styropor", wieder und wieder, das alles bei über 65 Dezibel. Der Virtuose unseres Stammlokals kam zu einigem Wohlstand in jenen Tagen.
Schon nach kurzer Zeit suchten wir gezielt nach Etablissements ohne erpresserisches Element.

Fazit. Wer einen an Anekdoten reichen Urlaub erleben möchte, der sollte in der Nachsaison an den Balaton fahren, es lohnt sich!


Mittwoch, 16. Juli 2014

Mein Freund Rolf (1991 bis 1999)

photo credit: Tobias Lindman via photopin cc

Freunde sind ein rares Gut! Wer einen Freund sein Eigen nennen darf, der halte an ihm fest!


[wahre Geschichte, alle Namen sind geändert]
1991 studierte ich für zwei Semester Wirtschaftswissenschaften an der Uni Wuppertal. Fast bei meiner ersten Raucherpause dort lernte ich Rolf kennen. Er war sechs oder sieben Jahre älter als ich (knapp über 30) und war ein ziemlicher Vogel. Vermutlich deswegen waren wir uns auf der Stelle sympathisch und freundeten uns an. Ich lernte im Laufe der Zeit auch seine Wuppertaler Freundin Karla kennen, eine Lehramtsstudentin.

Nach einiger Zeit hatte Rolf keine Lust mehr zum Studieren. Ihn zog es in seine alte Wahlheimat Berlin zurück, zumal seine Beziehung zu Karla kränkelte. Er wollte in Berlin mit seinem alten Freund Hans zusammenziehen, einem der ganz großen Womanizer des auslaufenden Jahrtausends. Ich half bei dem Umzug und mit einem picke-packe-vollen 2,8-Tonner, der 75 km/h Spitze fuhr, erreichten wir Berlin bei Sonnenaufgang.

Ostberlins Fassaden waren braun, grau oder braungrau, die unebenen Bürgersteige voller Hundescheiße, die Treppenhäuser seit dem Krieg (dem von 1914-18) nicht mehr renoviert worden. Wir schleppten Rolfs Polinten in den fünften Stock (was bei normaler Stockwerkhöhe mindestens der siebte Stock gewesen wäre). Dann tauchte ausgeschlafen, adrett gekleidet und gut gelaunt der Womanizer mit seinem Hab und Gut auf. Er hatte sich reichlich Hilfe kommen lassen: Birte, Selena, Maria, Xandra und die Alex. Die schweren Sachen mussten also wieder »die Jungs« schleppen. Nachdem alles oben war, muss ich kurz tot gewesen sein. Als ich nach einer Adrenalinspritze mitten ins Herz wieder zu Bewusstsein kam, gingen wir einen Döner essen. Der 2,8-Tonner machte auf dem Rückweg leer nun ganze 85 km/h Spitzengeschwindigkeit! Yay! Es war wie ein Rausch!

Von nun an telefonierten wir in loser Folge und ich besuchte Rolf jährlich in Berlin.
Die Freundschaft zwischen Rolf und Hans war mittlerweile zerbrochen, weil Rolf Hans’ brasilianischer Freundin »Nachhilfe« gegeben hatte. Ich konnte mir das schon vorstellen, wie das gelaufen war mit der »Nachhilfe«. Bei unseren Telefonaten erfuhr ich, dass auch andere Freundschaften Rolfs »aus Gründen« in die Brüche gegangen waren. Ich dachte mir meinen Teil.
Irgendwann sagte er während eines dieser Gespräche zu mir: »Henning, du bist mein bester Freund!« Ich fand das ziemlich unheimlich, wir sahen uns doch nur einmal im Jahr! Aber vermutlich war ich der »last man standing« – der Einzige, der übrig geblieben war.

Rolf, der in Berlin zwischen kurzen Phasen regulärer Beschäftigung sein Dasein als Lebenskünstler und Sozialbetrüger fristete, lernte seine Freundin Michaela kennen. Sie war Krankenschwester im nahen Urban-Klinikum, sie zogen zusammen. Michaela war eine freundliche, fröhliche und im Gegensatz zu ihrem Freund wunderbar bodenständige Person. Sie machte es immer zu einer Freude, in Berlin zu Besuch zu sein.
Die beiden wohnten in Bezirk Kreuzberg, Hobrechtstraße, die vom Hermannplatz abging. Am Hermannplatz trieb sich arg viel »Volk« (aka »trunkener Pöbel« & »multipel Abhängige«) herum. Am Kottbusser Damm »Kotti« gab es etliche türkische Gemüseläden, hie und da ein orientalisches Brautmodengeschäft und altdeutsche Butzenglas-Kneipen. In den Nebenstraßen und der Umgebung reihte sich Bar an Szenelokal, wie die heute noch hoch famose »Ankerklause«.

Einmal rief er mich an, nun sei es aber an der Zeit, dass ich ihn besuchte! Ich fragte: »Wie lange denn?«, er: »Total egal, Hauptsache du kommst!« Mit ihm musste ich ja nichts abklären, er war ja eh in keinem Arbeitsverhältnis. Also suchte ich mir ein Reisebüro und buchte für 300,00 DM eine Zugfahrt zweiter Klasse Hin/Rück nach Berlin. Dann, wieder zu Hause, rief ich ihn an: »Mission completed!« - »Wann genau kommst du?«, fragte er aufgeregt. Ich teilte ihm die Eckdaten der Woche mit, die ich gedachte nach Berlin zu reisen. Stille breitete sich aus. »Waaas? Eine ganze Woche? Bist du irre? Das geht doch nicht! In der kleinen Wohnung?«, schlug es mir entgegen. Ich war perplex. Das Gespräch wurde noch ungemütlich. Die Tickets ließ ich verfallen, umbuchen ging nicht, deshalb waren sie »so günstig« gewesen.
Soviel zu dem Thema.

Ein Jahr drauf rief er mich an, nun sei es aber wirklich ganz arg dringend an der Zeit, dass ich ihn mal wieder besuchen käme! Ich war zurückhaltend und vorsichtig geworden und fragte: »Wie lange denn GENAU?« - »Hey! Pfeif drauf! Hauptsache du kommst!« Ich suchte ein Reisebüro auf und buchte eine Zugfahrt, natürlich keine ganze Woche. Telefonisch teilte ich ihm mit, an welchen fünf (5) Tagen ich gedachte, nach Berlin zu reisen. Das, was jetzt kam, kannte ich schon. »Waaas? Fünf Tage? Das geht nicht!« Das Gespräch wurde noch reichlich ungemütlich. Ich gab ihm Tiernamen und legte auf. Die Tickets verfielen wie die vorherigen. Ich verbrachte einen deprimierenden Urlaub zu Hause, während draußen der September-Monsun das Bergische Land in eine Schlammwüste verwandelte.

Eine Weile hört ich nichts von Freund Sonne. Dann, eines Tages, schellte das Telefon und Rolfs Freundin Michaela war an der Strippe, was per se ungewöhnlich war. Das nachfolgende Gespräch dauerte etwa zwei Stunden.
Das war passiert:
Rolf hatte vom Amt eine Umschulung zum Serveradmin (oder Vergleichbares) bezahlt bekommen und musste nun brav einige Zeit in diesem Job arbeiten. Nach fast 20 Monaten (!) hatte er aber keinen Bock mehr, jeden Tag früh aufzustehen. Zudem hatte sein Chef ihn fast zehn Monate lang nicht bezahlt. Vor Gericht bekam er Recht, nun hatte er auf einmal einen Batzen Geld, den das Amt aber anrechnen würde, wenn er sich jetzt arbeitslos meldete. So verfiel er auf einen genialen Plan: Er würde die Kohle chefmäßig verjubeln!
Rolf begann, im Internet zu recherchieren. Irgendwie landete er dabei auf Foren, in denen sich junge Frauen aus Zweite- und Dritte-Welt-Ländern für »Herren« interessierten. Hey! Junge Frauen fand er auch toll! Dort traf er erstmals virtuell auf Jacqi. Sie war ein junges, lebenslustiges Ding aus einem Dorf irgendwo in Mittelamerika. Rolf, dessen Hormone seinen Realitätssinn zuweilen umnebelten, verabredete sich mit ihr in eben diesem mittelamerikanischen Land und buchte sich Flugtickets.
Seiner Partnerin, mit der er seit Jahren zusammenlebte, sagte er nur: »Ich mache Urlaub!«
Michaela wunderte sich nur, ahnte aber nichts.

Rolf nahm alles Geld, was er hatte und ließ es in Landeswährung wechseln. Er flog über den Atlantik, kam an einem palmenumstandenen Flughafen an. Er fuhr mit einer rumpelnden Eisenbahn so weit es ging. Dort nahm er ein fragwürdiges Taxi. Jacqui erwartete ihn in ihrem Dorf.
Sie muss ihm gut gefallen haben, denn schon am nächsten Tag ging Rolf zum örtlichen Schneider und ließ Maß nehmen. Zwei Tage später hielt er bei Jacquis Vater in einem Maßanzug aus feinstem Zwirn  – auf Knien um die Hand seiner Tochter an. Der Alte war hocherfreut, seinen Augenstern an einen europäischen Multimillionär zu geben und willigte ein. In Villariba wurden große Hochzeitsvorbereitungen anberaumt, von denen man in Villabajo nur träumen konnte (Youtube). Das Paar wurde mit großem Ritus vermählt, es wurde drei Tage lang gefeiert. Rolf haute die Kohle raus wie ein betrunkener Seemann. Bald stellte er fest, dass er mehr Geld benötigen würde, wenn er noch ein Flugticket für seine Braut würde zahlen müssen. Vom Postamt aus rief er seine Tante in Bochholt an und schilderte ihr die Situation. Die fragte, ob er noch alle Latten am Zaun habe und legte auf. Dann rief Tantchen umgehend Rolfs Partnerin in Berlin an. Die arme, treue Michaela, die sich bis zu diesem Augenblick in einer intakten Beziehung wähnte, fiel aus allen Wolken!
Noch an diesem Abend begann sie, ihr Hab und Gut von seinem zu trennen. Schon zum Ende der nächsten Woche zog sie in eine andere Wohnung, verschwand auf Nimmerwiedersehen.

Rolf hat die Kohle für Jacquis Ticket noch zusammenbekommen. An einem sehr kalten, sehr grauen Novembertag sind die Frischvermählten durch Schneematsch und angefrorene Hundescheiße gestapft, um in einer geplündert aussehenden, ungeheizten Wohnung in Berlin-Kreuzberg anzukommen. Die 45 Pflanzen waren zum größten Teil verdorrt. Im Briefkasten stauten sich Werbeflyer und Rechnungen, die Monatsmiete stand aus.
Vermutlich hat Freund Sonne schon am kommenden Tag Stütze beantragt.

So wird sich die lebenslustige Jacqui ihr Leben mit dem deutlich älteren europäischen Multimillionär nicht vorgestellt haben.


Einige Wochen später rief Rolf mich an, ich müsse ihn mal dringend wieder besuchen.
Ich erklärte ihm, dass Michaela mich bereits ins Bild gesetzt habe und dass es zu einem Besuch meinerseits wirklich keine Veranlassung mehr gebe. Ich wünschte ihm ein schönes Leben und legte auf.


Freunde sind ein rares Gut! Wer einen Freund sein Eigen nennen darf, der halte an ihm fest!*
*) Ausnahme: Der Freund hat heftig einen an der Klatsche.


Montag, 14. Juli 2014

Erreicht

photo credit: jDevaun via photopin cc

Überraschend traf ich in meiner alten Heimatstadt nach einer wirklich langen Zeit einen (fast schon ehemaligen) Bekannten wieder. Er schien sich bester Gesundheit zu erfreuen und strahlte mit perfekt gebleachten Zähnen über das ganze Gesicht. Sein Händedruck zermalmte meinen Mittelhandknochen. Schnell stellten wir fest, dass wir uns tatsächlich Mitte 1999 das letzte Mal begegnet waren - vor unglaublichen 15 Jahren!
"Und, was hast du in der Zwischenzeit erreicht?", fragte mich der Strahlemann ernstlich.
Ich erstarrte sicher eine geschlagene Minute lang.
WTF war das denn für eine Frage?
Nun, obwohl (oder vermutlich gerade weil) ich Sparkassenkunde bin, fiel bei mir die Konsumgütervergleichsparade "mein Haus, mein Auto, mein Boot" (Werbung 1999) eher bescheiden aus [zur Miete, Smart, kein]. Dass ich immer Müll getrennt hatte und meinen CO2-Ausstoß mit der Anschaffung des Smart gegenüber des Vorgängermodells hatte halbieren können, galt sicher nicht. Auch schien die Antwort "innere Ruhe" oder "größere Gelassenheit" hier nicht anzukommen. Dies hier war ein reiner Schwanzvergleich des Materiellen!
Da stand ich nun, ich armer Tor: Keine Exfrauen, keine Kinder, keine Pleite gegangenen Firmen, keine Gläubiger, keine Steuerfahnder an meinen Fersen, keine gebauten und dann wieder zwangsversteigerten Häuser, keine Tierart ausgerottet -- Grundgütiger, mit der Frage hatte er mich richtig erwischt!
"Ich werde nächstes Jahr heiraten!", sagte ich stolz.
Er machte ein sauertöpfisches Gesicht, knurrte Unverständliches. Unbewusst hatte er seinen Ringfinger ergriffen und spielte mit der blassen Stelle, an der noch Wochen oder Monate zuvor sein Ehering gesessen hatte. Ich verstand.
"Ich habe einen Roman geschrieben und ihn veröffentlicht", wechselte ich das Thema.
"Und, rocken die Abverkäufe?"
"Äh, ich bevorzuge den Terminus 'moderat', was die Verkaufszahlen angeht."
Er schaute mitleidig, interessierte sich auch nicht für das Genre, hier ging es um Reibach.
"Meine Neue ist noch in den Zwanzigern, die hält mich richtig auf Trab! Hab sie beim Krafttraining kennengelernt", prahlte er. "Der geile Schlitten da hinten", er deutete mit dem Daumen über seine Schulter, "wird bei 250 Sachen elektronisch heruntergeregelt - haha!, und meine neue Firma rockt so dermaßen, dass ich unter 80 Stunden die Woche da nicht rauskomme! Aber mach bloß 'nen Ehevertrag, meine Exfrauen saugen mich aus wie scheiß Vampire!"
Armer Kerl.
So viel Stress.
Und das mit Ende 40.
Genug geprahlt.
"Alles Gute!", sagte ich, "Bis 2029!"
"Jo!", lachte er, setzte dynamisch über die Straße und zwängte sich mit seinen 1,90 m in einen unbequem aussehenden silbernen Mercedes SL 350, schoss davon, Gummi lassend. Mein Blick folgte dem Wagen. Auf der Heckscheibe stand in Riesenlettern: "Scheidung 2014".
Ich glaube, wir taten uns beide sehr leid.

Bis 2029 wünsche ich Freund Sonne mehr "innere Ruhe" und "größere Gelassenheit".
Und mir wünsche ich ein ausgeglichenes Girokonto.


Dienstag, 1. Juli 2014

Vulcano (2009)

photo credit: eduo via photopin cc

Seinerzeit verkündete die WeightWatcher's-Meduse der gespannt dasitzenden Fatty-Gemeinde, dass man ja nicht eine ganze Tafel Schokolade auf einmal essen müsse. Hört, hört! Vielmehr reiche es, wenn man ein einziges Stück Schokolade in Spitzmaulfrosch-Optik, zumindest aber mit einem blöden Duckface lutsche, es minutenlang im Mund zergehen lasse, wie einen Klumpen Talg.
Brrr!
Dann das: Vor fünf (5) Jahren (2009) meldete die Weltpresse geschlossen, dass der weltgrößte Schokoladenhersteller Barry Callebaut AG sich anschicke, die Welt zu verändern, nämlich die Schokolade neu zu erfinden. Das neue Produkt sollte "Vulcano" heißen, wärmeresistent sein und - es klang wie im scheiß Märchen - diese Schokolade sollte (bis zu) 90% weniger Kalorien haben als "herkömmliche Schokolade" (hier einer der Artikel: Link).
Grundgütiger!
HURRA!!!

Shut up and take my money!!!
Ich nehm gleich 'ne Palette!!!
Und der WW-Meduse schleudere ich entgegen:
Ein einzelnes Stück? MUAHAHAHA!!! Nie wieder!!!

(dann passierte länger nichts)

Heute, im Jahr fünf nach dieser Meldung, ist eine Tafel Schokolade bei dem aktuellen Sommerwetter noch immer eine Fangopackung mit 546 kcal (Link), für die man, wenn man sie verschlungen hat, sackhüpfend 5x die Entfernung Erde-Mond zurücklegen müsste, um die Kalorien wieder loszuwerden.
Also: Wat is nu?

Wenn ich auf die Webseite der Barry Callebaut AG gehe (hier) und im Suchen-Feld "Vulcano" eingebe, aber nur einen (1) dead link zurück bekomme, dann fange ich an, mir ein ganz klein bissi Sorgen um Vulcano und mich zu machen.
Seufz! Es hätte so schön werden können mit uns.
Dem Schweizer Unternehmen Barry Callebaut AG möchte ich offiziell mitteilen:
ICH PRANGERE DAS AN!


Mehr zu Schokolade: externer Link